Neues zur Typographie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Zwei lesenswerte Dissertationen zum Graphik-Design

In der Zwischenkriegszeit kam es im Bereich des Graphik-Designs zu einer neuen Stilrichtung. In der turbulenten Zeit nach dem 1. Weltkrieg entwickelte sich im deutschsprachigen Raum die sogenannte Neue Typographie. Zuerst versuchten bildende Künstler wie beispielsweise der Bauhäusler László Mohoy-Nagy das Genre der Gebrauchsgraphik zu einer Kunstform zu erheben. Typographen wie beispielsweise Jan Tschichold nahmen solche Ideen auf und versuchten daraus ein eigenes Zeichensystem zu entwickeln.

Symbolbild: Arbeitsplatz des Grafikers und Buchillustrators Prof. Werner Klemke in Berlin-Weißensee, Bundesarchiv, 183-Z0107-019, Katja Rehfeld, Katja, CC-BY-SA 3.0

Ziel war es für die Produktion von Druckgraphiken Thesen zu formulieren, durch welche die graphische Gestaltung von Druckerzeugnisse an die veränderten, besonders die beschleunigten Drucktechniken angepasst werden konnten. Es sollten dabei idealiter beispielsweise nur vergleichsweise wenig Schriftarten verwendete. Die Graphik-Designer erhofften sich dadurch etwa einen einheitlicheren Satzspiegel. Insgesamt lässt sich daher das erste Drittel des 20. Jahrhunderts als eine Phase der Selbstkonstituierung der graphischen Berufe in Deutschland interpretieren.

Zwei lesenswerte Dissertationen zu dieser Entwicklung in der Designgeschichte sind in jüngerer Zeit erschienen. Daniela Stöppel analysiert in ihrer Arbeit von 2014 visuelle Zeichensysteme der Avantgarden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.1 Julia Meer hinterfragt während dessen die Neue Typographik anhand den publizistischen Äußerungen ihrer Akteure.2

Die Münchner Kunsthistorikerin Daniela Stöppel untersucht in ihrer Arbeit die visuellen Zeichensysteme bei gestalterischen und ideologischen Diskursen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie zeigt dabei wie Künstler nach 1900 versuchten universelle Zeichensysteme zu entwickeln. Ein Beispiel hierfür sind etwa Mondrian, Malewitsch und Kandinsky für das abstrakte Bild als elementares Zeichensystem. Besonders im drittel Kapitel über „Zeichensysteme der visuellen Kommunikation“ geht Stöppel auf Aspekte der Designgeschichte ein und beschäftigt sich etwa mit den Arbeiten von Walter Dexel sowie den Akteuren am Bauhaus und Hans Burchartz. Besonders gelungen ist hierbei der Blick nach Osten, der von der „üblichen“ eurozentrischen Perspektive vieler Untersuchen abweicht. Dank der Analyse der sowjetischen Entwicklungen kann Stöppel eine Brücke schlagen hin zu den Entwicklungen, welche die Graphiker in Mitteleuropa zeitgenössisch prägten. Besonders erwähnenswert ist auch die äußerst gelungene graphische Gestaltung der ganzen Publikation, die im Verlag Silke Schreiber erschienen ist.

Die Berliner Kommunikationsdesignerin Julia Meer verspricht in ihrer Dissertation einen neuen Blick auf die Neue Typographie der 1920er Jahre. Ihre zentrale These ist hierbei, dass die „Neue Typographie“ für die Zeitgenossen wirklich neu war. Ebenso wurde diese neue Art der graphischen Gestaltung nicht etwa wegen einem vermeintlichen Bezug zur Moderne abgelehnt. Die wesentlichen Akteursgruppen sind hierbei die Protagonisten des Graphik-Designer. Diese Profession begann sich in Deutschland ungefähr nach der Jahrhundertwende zu professionalisieren, was Meer als roten Faden für ihre Studie ausgewählt hat. Besonders die Rezeptionsgeschichte zum Graphik-Design der Zwischenkriegszeit und gewissermaßen eine „Ent-Mystifizierung“ der Rolle Tschicholds empfand ich als lesenswert.3 Dass die Studie lediglich basiert auf Fachzeitschriften basiert, hat mich als Zeithistoriker überrascht, da ich beim Lesen der Arbeit mehr Archivrecherchen erhofft habe. Besonders in einer föderalen Staatlichkeit ließen sich beispielsweise bei Gewerkschaften, Gewerbeämtern, oder Unternehmensverbänden noch Punkte ergänzen können. Nichtsdestotrotz ist Meers Dissertation auf inhaltlicher und sprachlicher Ebene äußerst lesenswert. Die Mystifizierung und Selbstdarstellung von Akteuren zu dekonstruieren, kann auch in der Designgeschichte äußerst spannend sein.

 

1 Daniela Stöppel, Visuelle Zeichensysteme der Avantgarden 1910 bis 1950. Verkehrszeichen, Farbleitsysteme, Piktogramme, München 2014, Silke Schreiber Verlag, zugl. Diss. Ludwig-Maximilians-Universität München 2008.

Julia Meer, Neuer Blick auf die Neue Typographie – Die Rezeption der Avantgarde in der Fachwelt der 1920er Jahre, Bielefeld 2015, zugl. Diss. Bergische Universität Wuppertal.

Zum Punkt „Ent-Mystifizierung“ sei auch ein Querverweis auf ein Buchprojekt von Meer zur Bedeutung von Frauen in der Designgeschichte erlaubt: „Women in Graphic Design 1890-2012“, hrsg. von Gerda Breuer und Julia Meer, Berlin 2012.